Gewerkschaftliche Perspektive Erster Mai 2023 – wie Ostern oder Heilig Abend!?

Politik

Wie immer im Mai: Die Gewerkschaft macht sich extra öffentlich bemerkbar. Diesmal mit guten Ideen – Stichwort: 4-Tage-Woche –, die dem Standort gut tun sollen.

IG Metall-Vorsitzender Jörg Hofmann im Gespräch mit Beschäftigten bei FORD in Köln, Mai 2015
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IG Metall-Vorsitzender Jörg Hofmann im Gespräch mit Beschäftigten bei FORD in Köln, Mai 2015 Foto: Jochen Faber (CC-BY-SA 4.0 cropped)

15. Mai 2023
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Man ist es ja gewohnt: Weihnachten spricht der Kanzler oder die Kanzlerin, Silvester der Präsident und Ostern der Papst. Vor dem ersten Mai meldet sich gewöhnlich jemand aus der Gewerkschaft zu Wort, so auch diesmal und das gleich doppelt: In der Person der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi in der ARD am 30. April bzw. 1. Mai und des IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann in „Bild am Sonntag“ einen Tag vor dem Festtag der Arbeit.

Hofmann wollte wohl seine Gewerkschaft mal wieder in Erinnerung bringen und für Mitgliedschaft werben, sonst würde der Verein noch in Vergessenheit geraten. Die Metall-Gewerkschaft hatte ja zuletzt still und leise – ganz in Verantwortung für die Nation – eine Reallohnsenkung mit den Arbeitgebern vereinbart, während sich die DGB-Kollegen von Verdi und EVG mit Warnstreiks in Szene setzten und so für sich Reklame machten.

Abgeschlossen hat Verdi bisher freilich ganz auf der Linie von IG Metall und IG BCE, also den staatliche Vorgaben in puncto Einmalzahlungen folgend. Doch mit ihrem „kämpferischen“ Auftreten hat Verdi eine ganz andere Öffentlichkeitswirkung als die Kollegen und so Mitglieder gewinnen können (siehe: „Tarifabschluss bei der Post: Ein Ergebnis mit Fragezeichen“). Also musste auch der Boss der grössten Einzelgewerkschaft etwas tun, um seinen Verein ins Gespräch zu bringen, und wählt dazu ein Thema, bei dem er sicher sein konnte, dass es Diskussionen auslöst: die Vier-Tage-Woche.

Tarifthema in Zeiten des Fachkräftemangels

„Wir brauchen die 4-Tage-Woche“ (Bild am Sonntag, 30.4.23) lautet die Forderung, die der „mächtigste Gewerkschaftsboss Deutschlands“ für die Stahltarifrunde im Herbst anmeldet. Wen er mit „Wir“ meint, machte der auch gleich deutlich, als er sich auf die richtungsweisende Frage des Sonntagsblattes aus dem Hause Springer einliess.

Frage: „Deutschland steht vor Riesenaufgaben. Haben wir genug Leute, die die Klimawende stemmen, die Wärmepumpen einbauen und Windräder aufstellen? Hofmann: Der Fachkräftemangel gefährdet die gesamte Energiewende und damit die Wirtschaft des Landes… Es ist ja herausfordernd, mitten im Feld in 100 Meter Höhe eine Turbine zusammenzuschrauben. Dafür braucht man enorme Belastbarkeit und viel Know-how. Um genug Leute zu haben, müssen Jobs in diesem Bereichen attraktiver werden.“

„Bild“ gibt mit seiner Frage das Thema vor, dem sich die Gewerkschaft zu stellen hat: der Erfolg Deutschlands. Um den haben sich alle zu sorgen, die diesem nationalen „Wir“ zuzurechnen sind, obwohl die Mehrheit von ihnen es sich nicht ausgesucht hat, in einer Gesellschaft zu leben, in der die einen arbeiten und die anderen daran verdienen. Wo also seit mehr als 150 Jahren (als etwa 1873 der erste Flächentarifvertrag in Deutschland abgeschlossen wurde) die lohnarbeitenden Menschen vor der Notwendigkeit stehen, „durch Zusammenhalt wirksame Gegenmacht gegen Arbeitgeber- und Kapitalmacht zu schaffen“, wie es im DGB-Grundsatzprogramm heisst!

Der nationalen Sorge fühlt sich wie selbstverständlich auch der Gewerkschaftsführer verpflichtet und weist die Frage deshalb nicht zurück. Offenbar ist auch ihm die Lüge von der Klimawende geläufig in einer Zeit, in der die Braunkohlekraftwerke heiss laufen und massenhaft Kohlenstoff in die Atmosphäre blasen, denn es geht ja um Deutschlands Energieunabhängigkeit, die jetzt mit Braunkohle und später mit Wind- und Sonnenenergie hergestellt werden soll. Die Nützlichkeit seiner Mitglieder für dieses Programm hat Hofmann im Auge, wenn er mit der 4-Tage-Woche die Knochenarbeit in 100 Meter Höhe attraktiv machen will.

Und das soll sowohl im Interesse Deutschlands sein, das solche Arbeitskräfte benötigt, als auch derer, die die Arbeit machen müssen, weil sie Geld brauchen. Dass Arbeiter abhängig sind vom Erfolg des Geschäftes, von dem auch der Erfolg der Nation abhängt, soll man sich als eine Art Schicksalsgemeinschaft vorstellen, in der Zusammenhalt das Allerwichtigste ist – wo man eben „ungebrochen solidarisch“ ist, wie das diesjährige DGB-Motto lautete. Dieser Verschiebung ins Nationale – ausgerechnet am ehemaligen Kampftag der Arbeiterbewegung – hat jüngst das Gewerkschaftsforum eine Kritik gewidmet.

Die genannten Arbeiten weniger belastend zu machen, ist dabei nicht die Sache des IG Metall-Vorstosses. Die Menschen sollen sich nur besser davon erholen können, denn es gibt schliesslich noch andere Anforderungen, denen sie gerecht werden sollen. Da kennt der Gewerkschaftsboss sich aus:

„Wer fünf Tage die Woche auf Baustellen unterwegs ist, Windräder montiert, Wärmepumpen einbaut, der muss häufig lange Arbeitswege zurücklegen oder sogar über Nacht wegbleiben. Da gibt es schnell Probleme mit der Familie. Wer hingegen drei Tage zu Hause ist, kann den Familienalltag leichter und partnerschaftlicher organisieren.“ Zwar redet die IG Metall häufig von der 35-Stunden-Woche, doch als ihr Vorsitzender weiss Hofmann, dass der Arbeitstag sich eben nicht nur auf die reine Zeit am Arbeitsplatz beschränkt, sondern auch die meist unbezahlten Wegezeiten umfasst. Und wenn es die Auftragslage oder sonstwas erfordert, gehört auch die freie Zeit der Firma; dann ist nichts mit selbstbestimmtem Feierabend, dann darf man ihn etwa in einer von der Firma bezahlten Pension verbringen. Zudem fallen je nach Betriebsnotwendigkeiten – nicht immer bezahlte – Überstunden an, so dass die 35-Stunden-Woche für viele nur auf dem Papier existiert.

Das alles erscheint als Selbstverständlichkeit. Kritikabel wird es dagegen erst, wenn die Familie darunter leidet, also ihre Regenerationsleistungen nicht mehr erbringt. Bekanntlich ist das Familienleben reichlich mit notwendigen Aufgaben eingedeckt, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten – von Einkauf und Ernährung bis zu Hausputz und Körperpflege –, bevor die eigentliche „freie Zeit“ beginnt.

Ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt (Geiersturzflug)

„Bild“ drückt aber die Sorge, wie bei mehr Freizeit der Erfolg der deutschen Wirtschaft gesichert werden kann. BamS: „Aber wie soll denn in Zeiten von Fachkräftemangel die Arbeit in weniger Zeit geschafft werden? Hofmann: In der Metall- und Elektroindustrie beträgt die Wochenarbeitszeit 35 Stunden. Im Stahl arbeiten die Schichter sogar nur 33,6 Stunden in der Woche und müssen dann übers Jahr 13 Zusatzschichten leisten, um auf ihre Wochenarbeitszeit zu kommen. Der Sprung zur 32 Stunden-Woche an vier Tagen ist also nicht sehr gross. Und wir sehen: Wo die Vier-Tage-Woche gilt, steigt die Produktivität. Die Mitarbeiter sind weniger krank. Wer an vier Tagen für acht Stunden auf Maloche ist, der klotzt auch rein, weil die Arbeitszufriedenheit grösser ist. Ausserdem ist das Arbeitsmodell ein echter Vorteil im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter.“

Schon die Frage ist seltsam, unterstellt sie doch, dass es so etwas wie eine bestimmte Arbeitsmenge gäbe, die irgendwie erledigt werden muss. Dabei wissen auch die Fragesteller des Springer-Blattes, dass der Umfang der Arbeit sich danach richtet, was sich gerade lohnt. Mal sind Leute arbeitslos, weil ihre Beschäftigung keinen Gewinn verspricht, dann wieder werden sie gesucht, weil das Geschäft sich lohnt. „Fachkräftemangel“ ist übrigens das Schlagwort für den Anspruch der Arbeitgeberseite, dass ihnen Arbeitskräfte immer „just in time“ zur Verfügung zu stehen haben.

Doch an solchen Feinheiten stösst sich der Arbeitervertreter nicht. Er macht sich die vom Massenblatt geäusserte Sorge gleich wieder zu Eigen und will beweisen, dass der Nutzen der Arbeiter in Form von kürzerer Arbeitszeit auch zum Nutzen der Betriebe und damit Deutschlands ist. Die angestrebte Verkürzung der Arbeitslast wird dabei zu einem unwesentlichen Punkt. Dass sie keine Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Beschäftigten darstellt, macht Hofmann auch gleich deutlich. Geht er doch davon aus, dass in der kürzeren Arbeitszeit mehr aus den Beschäftigten rauszuholen ist, dass sie also in der kürzeren Zeit stärker belastet werden.

Das Argument, dass sie daher weniger krank werden, bezieht der IG Metall-Boss wohl aus Statistiken von Firmen, die diese Regelung bereits eingeführt haben, aber nicht unbedingt Metallbetriebe sind. Es ist ja immer die Frage, was in solchen Untersuchungen verglichen wird, oft handelt es sich um den Vergleich von Äpfeln und Birnen.

Auch die Behauptung, dass bei einem Acht-Stunden-Tag, den es ja schon längst gibt, die Arbeitszufriedenheit grösser sei und die Mitarbeiter mehr ranklotzen, malt ein Bild der Arbeitswelt, das mit der Realität in den Betrieben nichts zu tun hat – was der Gewerkschaftsmann eigentlich auch besser weiss. In welchem Betrieb können denn Arbeiter nach Lust und Laune arbeiten? Schliesslich gibt in der Regel der Betrieb vor, was der Mitarbeiter zu leisten hat. Wer die Leistung nicht bringt, ist schnell auf der Abschussliste.

Aber zu den beschönigenden Bildern greift der oberster IG-Metaller deshalb, weil er unbedingt die Lüge verbreiten will, dass sich die Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, wenn man nur will, vereinbaren lassen. So sollen die kürzeren Arbeitszeiten es eben auch den Unternehmen leichter machen, entsprechendes Personal zu finden. Dabei ist es dem Gewerkschaftsvertreter selbstverständlich, dass bei 5 % Arbeitslosigkeit und Millionen von Arbeitslosen den Arbeitgebern die Qualität und die Auswahlmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt nicht passen.

Frauen an die Arbeitsfront

In welchem Umfang eine Vier-Tage-Woche gerade im Sinne der Arbeitgeber ist, kann Hofmann mit weiteren Argumenten unterstreichen:

„Mit der Vier-Tage-Woche kann sogar das Arbeitsvolumen insgesamt gesteigert werden. 11 Millionen Beschäftigte, meist Frauen, arbeiten in Teilzeit. Das sind fast 30 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten… Unsere Beschäftigtenbefragungen haben klar ergeben: Mit der Vier-Tage-Woche à 32 Stunden wären viel mehr Frauen bereit, in Vollzeit zurückzukehren, weil dieses Modell auch mit Familie funktioniert.“

Eine wirklich tolle Regelung für das Kapital wie für die Beschäftigten und ihre Familien! Damit können endlich auch die Frauen voll arbeiten gehen. Hoffentlich stimmen dann die Schichtpläne, so dass immer einer auf die Kinder aufpassen kann und man sich bei der Übergabe der Kleinen sieht. Wenn die Frauen ebenfalls voll arbeiten, wird die Familienarbeit natürlich nicht weniger und die Zeit für die Familie insgesamt auch nicht mehr. Dass es die Bereitschaft zu Mehrarbeit in grossem Umfang gibt, dafür hat übrigens die Gewerkschaft mit ihren Tarifabschlüssen ja umfassend gesorgt: Wenn die (Real-)Löhne ständig sinken, bleibt oft nur die Alternative, noch mehr Zeit in einem Betrieb zu verbringen.

Gewerkschaftliche Perspektive

Mit seiner Forderung nach der Vier-Tage-Woche hat es der IG-M-Chef geschafft, wieder in die Medien zu gelangen, wobei die Resonanz eher negativ war: „Denn wenn die Gewerkschaft die verkürzte Arbeitswoche für ihre Mitglieder durchsetzen will, sehen die Arbeitgeber die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in Gefahr.“ (BamS)

Während der IG-Metall-Chef stets den gemeinsamen Nutzen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern betont und so deutlich macht, dass er keinen Tarifkampf gegen das Kapital führen will, beharren die Arbeitgeber auf dem Gegensatz von Arbeiter- und Kapitalinteressen. Geschafft hat Hofmann aber mit seiner Forderung, dass die Höhe der Löhne, die gerade in der Inflation dahinschwinden, kein Thema mehr sind.

Und während die Katholiken an Fronleichnam Prozessionen veranstalten, ist es am 1. Mai gewerkschaftlicher Brauch, ebenfalls mit Fahnen durch die Städte zu ziehen. Die Gemeinde braucht eben eine Perspektive. Die Kirchen richten ihre Mitglieder auf das Jenseits aus und versprechen das ewige Leben, Gewerkschaftsvertreter orientieren sich am Diesseits. Allerdings nicht, indem sie hier und jetzt für bessere Lebensbedingungen eintreten, sondern indem sie ihre Mitglieder auf die Zukunft verpflichten, in der es dann immer und immer wieder den gewerkschaftlichen Kampf braucht.

Ganz in diesem Sinne war denn auch die Botschaft der DGB-Vorsitzenden Fahimi gestrickt, die betonte, dass Einmalzahlungen bei der voranschreitenden Inflation wenig bringen. Damit wollte sie aber nicht die Abschlüsse ihrer Mitgliedsgewerkschaften kritisieren, die alle solche Einmalzahlungen vereinbart haben – und zwar entsprechend der Regierungsvorgabe. Sie verwies auf die bleibende (und seit über 150 Jahren angemeldete) Notwendigkeit, dass ihre Mitglieder in Zukunft gerechte Löhne brauchen und forderte daher ein Tariftreuegesetz (Tagesschau, 1.5.2023). Das ist auch eine Karriere der Arbeiterbewegung: Am Schluss wendet man sich als Bittsteller an den Staat!

So sind sie eben, die dem deutschen Erfolg verpflichteten Arbeitervertreter! Die von ihnen mit vereinbarten Nöte ihrer Mitglieder werden zum Argument dafür, dass es solche Vertretungen braucht. Natürlich benötigen Arbeitnehmer eine Organisation, um der Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen durch das Kapital etwas entgegenzusetzen. Doch das ist von den im DGB zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften wohl nicht zu erwarten. Fragt sich nur, wozu solche Vereine eigentlich gut sind?

Suitbert Cechura